Über die Wirkung, Grenzmengen und Wege aus der Sucht spricht Dr. Michael Musalek, Ärztlicher Direktor der Suchtklinik Anton Proksch Institut, im Experten-Interview.

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Musalek Michael_c_Anton Proksch Institut - Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, 1955 geboren, studierte in Wien Medizin und absolvierte anschließend die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er ist seit 2001 im Anton Proksch Institut tätig, seit 2004 als dessen Ärztlicher Leiter. - © Anton Proksch Institut
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek, 1955 geboren, studierte in Wien Medizin und absolvierte anschließend die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Er ist seit 2001 im Anton Proksch Institut tätig, seit 2004 als dessen Ärztlicher Leiter. © Anton Proksch Institut

Deine Apotheke: In Sachen Alkoholkonsum ist Österreich eines der Spitzenländer europaweit: ungefähr zwölf Liter Alkohol konsumieren die Österreicher im Durchschnitt pro Jahr. Wird dieses Thema hierzulande bagatellisiert?

Dr. Michael Musalek: Absolut. Es wird auf der einen Seite bagatellisiert, auf der anderen Seite dramatisiert. Es wird bagatellisiert, wenn so Sätze wie: „Ein Gläschen in Ehren kann keiner verwehren“ fallen. Man spricht auch vom „gesunden Achterl“. Es gibt kein richtiges Gefahrenbewusstsein. Alkohol wird überall und regelmäßig getrunken. Auf der anderen Seite, wenn dann jemand ein Alkoholproblem hat, dann wird's dramatisiert. Dann möchte man mit demjenigen nichts zu tun haben, es gibt Arbeitsplatzprobleme etc. Und damit wird dieses Problem natürlich tabuisiert. Das ist auch einer der Gründe, warum viele Patienten so spät in Behandlung kommen. Es braucht im Schnitt sechs bis acht Jahre, bis jemand bei manifester Alkoholkrankheit dann auch wirklich in Behandlung kommt.

Wieviel Alkohol ist zu viel?

Alkohol macht zwei Dinge: Das eine ist, dass er zur Sucht führen kann, das andere ist, dass er eine schädigende Substanz für alle Körpersysteme ist und außerdem depressionsauslösend und -fördernd wirkt. Hinsichtlich der körperlichen Schädigungen, da gibt es bestimmte Grenzmengen – rund 420 Gramm Reinalkohol. Das sind drei Krügel Bier und eine Bouteille Wein am Tag – da kann man mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass man eine Leberschädigung davonträgt. Aber das sagt über die Suchtentwicklung wenig aus. Suchtentscheidender ist einerseits die Regelmäßigkeit, also dass man zum Beispiel keine alkoholfreien Tage einlegt und zweitens, dass man den Alkohol nicht als Genussmittel einsetzt, sondern als Medikament. Diese Faktoren sind in Kombination mit einem erhöhten Konsum wirklich wegweisend in die Sucht.

Ist der Feierabend-Drink, um den Arbeitstag ausklingen zu lassen noch unbedenklich? Wo hört der Genuss auf?

Genuss ist, wenn ich ein alkoholisches Getränk zu mir nehme, weil es mir schmeckt, weil es gut zum Essen dazu passt und dementsprechend auch hochqualitativ ist. Alles andere ist Wirkungstrinken. Leider ist ein Großteil dessen, was als Genusstrinken bezeichnet wird, eigentlich ein Wirkungstrinken. Es gibt diese Afterwork-Drinks, die üblicherweise als Genuss bezeichnet werden. Wenn man dann genauer nachfragt, dann trinken aber viele Menschen doch, um zur Ruhe zu kommen und Spannungen abzubauen etc. Dort ist auch das problematische Trinken angesiedelt. Wenn man hie und da einen Afterwork-Drink trinkt, um in Gesellschaft eine schöne Zeit zu verbringen, dann spricht da nichts dagegen. Wenn man das macht, um wieder runterzukommen oder seine Ängste abzubauen – dann wird's problematisch.

Rotwein enthält Polyphenole. Ein Achterl pro Tag soll sogar die Herz-Kreislauf-Gesundheit stärken. Was hat es damit auf sich?

Durch Alkohol wird man nie gesünder. Es gibt natürlich Studien, die das immer wieder behaupten. In geringen Mengen soll Alkohol gesundheitsfördernd sein und in höheren Mengen schädlich. Diese geringen Mengen, die gesundheitsfördernd sein sollen, sind aber leider Artefakte. Alkoholinhaltsstoffe, die in der Tat kardioprotektiv (Anm.: herzschützend) wirken, sind in manchen Rotweinen durchaus vorhanden. Was nicht dazu gesagt wird, ist die Dosierung. Sie müssten den Bordeaux gallonenweise trinken, um hier einen Wirkfaktor zu erreichen – Sie sind jedoch längst an einer Leberzirrhose verstorben, bis der kardioprotektive Effekt einsetzt. Außerdem gibt es mit großer Regelmäßigkeit Studien in Fachmagazinen, wo zwei Gruppen miteinander verglichen werden: die, die gar keinen Alkohol trinken und die, die selten Alkohol trinken. Da kommt oft raus, dass die, die wenig trinken, gesünder sind als die Abstinenten. Warum? Weil die völlig abstinenten eine relativ kranke Gruppe sind. Oft sind das Menschen, die keinen Alkohol mehr trinken dürfen. Die Gruppe, die sehr selten Alkohol trinkt, ist hingegen meist sehr gesundheitsbewusst. Die machen in der Regel auch viel Bewegung und achten auf ihre Ernährung. Und deshalb kommt oft bei solchen Studien heraus, dass die, die wenig trinken, gesünder sind. Der Rückschluss, dass wenig Alkohol gesünder ist, als kein Alkohol, ist natürlich falsch!

Was bringt der Alkoholverzicht während der Fastenzeit?

Alkoholverzicht ist immer etwas, was zu befürworten ist. Was nicht zu befürworten ist, wenn man das einmal im Jahr macht, um dann einen Freibrief zu haben, danach wieder massiv zu trinken – das kann nicht der Sinn sein. Viel wichtiger wäre, dass man zwei bis vier alkoholfreie Tage pro Woche einlegt. Je mehr umso besser natürlich. Damit ist man eher auf der sicheren Seite. Und auch die Alkoholmengen sind entscheidend – ein bis zwei Achterl Wein oder ein bis zwei Seiterl Bier sind als eher unproblematisch einzustufen. Grenzmengen gibt es in Bezug auf die körperliche Erkrankung, in Bezug auf die Sucht gibt es keine Grenzmengen.

Zahlen und Fakten:

  • 340.000 Menschen gelten in Österreich als alkoholkrank.
  • 735.000 Österreicher konsumieren Alkohol regelmäßig in einem gesundheitsschädlichen Ausmaß.
  • Man geht von ungefähr 150.000 Medikamentenabhängigen in Österreich aus. Die Dunkelziffer ist aber vermutlich weitaus höher.
  • Die Lebenserwartung alkoholabhängiger Frauen ist um ca. 20 Jahre, die von Männern um ca. 17 Jahre verringert.

Steigt mit unserer schnelllebigen, stressigen Arbeitswelt auch der Alkoholkonsum?

Es gibt einen Faktor, der alles an Einflussfaktoren, warum jemand alkoholkrank wird, sticht: und das ist die Verfügbarkeit! Je leichter alkoholische Getränke verfügbar sind, desto mehr werden sie getrunken, desto höher dosiert werden sie getrunken und desto mehr Alkoholkranke gibt es. Das ist ein ehernes Gesetz, das für alle Suchtmittel gilt, auch für die nicht stoffgebundenen Suchtformen. In Österreich kommt man besonders leicht an Alkohol – an Tankstellen sogar 24 Stunden hindurch. Auch sonst geht das relativ leicht und billig. Ganz anders in den skandinavischen Ländern. Verfügbarkeit ist aber auch eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz. Heute ist das nichts Besonderes, auf ein, zwei After-Work Drinks zu gehen. Das Image des Alkoholtrinkens ist leider besser geworden. In Österreich haben wir bei den Männern seit den 1970er-Jahren eine ungefähr gleiche Anzahl von Alkoholkranken, sogar ganz leicht rückläufig. Bei den Frauen hingegen haben wir massive Zuwachsraten.

Sie sprachen vorhin vom Wirkungstrinken statt dem Genusstrinken. Was passiert mit Körper und Psyche, wenn wir (viel) Alkohol konsumieren?

Alkohol hat den großen Nachteil, dass er zwei verschiedene psychotrope Wirkungen hat. Psychotrop heißt, dass sich unser Erleben, unsere Gefühlswelt verändert. Alkohol wirkt in niedriger Dosierung eher stimmungsaufhellend, etwas euphorisierend und natürlich enthemmend – auch spannungslösend. Man fühlt sich „wohler“. Mit zunehmender Dosierung ist zwar weiterhin die Enthemmung vorhanden und wird sogar stärker, aber in Bezug auf die Stimmung kommt es zu einem Kippen – und zwar von der euphorisierenden in die depressionsfördernde Wirkung. Bei ungefähr 20 Prozent kommt es nicht zu einer depressionogenen Wirkung, sondern sogar zu einem Kippen in Richtung Aggressivität. Man kennt das ja von Festen: Am Anfang sind alle lustig, man kommt sich näher, kann dem anderen Geschlecht endlich all das sagen, was man möchte. Und dann zu später Stunde werden die großen Probleme der Menschheit diskutiert. Alle haben das Gefühl, in eine intellektuelle Phase einzutauchen – das ist aber nichts anderes als die depressionogene Wirkung des Alkohols. Bei Festen ist das ja noch ganz in Ordnung. Generell kann das aber gefährlich werden: Wir verlieren Jahr für Jahr viele Patienten an das so genannte depressive Durchgangssyndrom. Wenn Depression auf Enthemmung trifft, hat das natürlich eine nicht unerhebliche Suizidgefährdung. So verlieren wir leider immer wieder Patienten.

Wie kann die Alkoholabhängigkeit besiegt werden? Ist Alkoholabstinenz das einzige Ziel?

Das Beste wäre, nicht zu warten bis jemand krank ist und dann erst zu versuchen, ihn gut zu behandeln, sondern viel mehr im Bereich der Prävention zu machen. Man muss hier ein Bewusstsein schaffen und informieren, wo Gefahrenmomente liegen. Wenn dann jemand suchtkrank wird, dann braucht es eine sehr komplexe Behandlung. Die Behandlungsmöglichkeiten in Österreich sind hervorragend und die Prognose, wenn jemand in Behandlung kommt, ist auch hervorragend. Es ist eine chronische Erkrankung, die nicht aufhört, mit der man aber völlig symptomfrei gut leben kann. Das gelingt bei 80 Prozent, wenn man regelmäßig behandelt wird. Es gibt stationäre und ambulante Behandlungen. In Bezug auf das Therapieziel hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Bei manchen Gruppen zieht man das moderate Trinken durchaus als Therapieziel in Erwägung. Wenn jemand schwer körperlich abhängig ist und mit Entzugserscheinungen reagiert, dann ist eine dauerhafte Abstinenz notwendig. Wenn jemand noch nicht so schwer abhängig ist, dann ist es möglich, auch ein moderates Trinken zu erreichen. Das Therapieziel ist nicht mehr die Abstinenz, sondern wieder ein autonomes und freudvolles Leben führen zu können. Die Abstinenz ist ein wichtiges Teilziel dabei.

Auch Medikamentenabhängigkeit findet in der öffentlichen Wahrnehmung kaum statt. Wie verbreitet ist sie?

Ja, furchtbar, das Thema ist noch stärker tabuisiert. Wir wissen nicht genau, wie viele Medikamentenabhängige es gibt. Wir sind dabei, hier eine österreichweite Untersuchung zu planen, das ist natürlich nicht ganz einfach. Wir haben keine verlässlichen Zahlen, man geht von ungefähr 150.000 bis 250.000 Medikamentenabhängigen aus. Das Problem ist, dass bei 90 bis 95 Prozent aller Medikamentenabhängigkeiten die Medikamente vom Arzt verschrieben wurden. Das wird daher auch sehr tabuisiert. Das zweite ist, dass die Entzugsbehandlung viel schwieriger ist als bei der Alkoholkrankheit. In Österreich wird über dieses Problem nicht gesprochen: Stichwort Alltagsdoping. Das ist ein ganz wesentliches Thema, das wir öffentlich diskutieren müssen.

Bei welchen Wirkstoffen ist besondere Vorsicht geboten?

Prinzipiell ist es so, dass jedes Suchtmittel eine psychotrope Wirkung hat. Es muss eine „gute“ und unmittelbare Wirkung haben. Die Hauptprotagonisten des Alltagsdopings sind erstens Tranquilizer, Anxiolytika, Schlafmittel, gefolgt von Amphetaminen und Substanzen, die leistungssteigernd wirken, und drittens Schmerzmittel und Mischpräparate. Eine spezielle Gruppe sind Abführmittel, die psychotrope Wirkung ist eine sekundäre, weil man sich einfach wohler fühlt, wenn man sich entleeren kann.

Wer greift zu Medikamenten und wer zum Alkohol?

Das konnte man früher eher sagen, da war Alkohol eher die Domäne des Mannes und Medikamente eher die der Frauen. Das beginnt sich immer mehr zu vermischen. Heute haben wir ganz selten mit Leuten zu tun, die nur von einer Substanz abhängig sind. Die meisten sind so genannte Polytoxikomane, also Menschen, die von mehreren Substanzen abhängig sind.