Depression ist keine Frage von Einkommen, Beruf, Geschlecht, Herkunft. Und vor allem: Sie ist keine Charakterschwäche. Dr. Thomas Reinbacher legt eine Bilderbuchkarriere bei Google und Co. hin, ist mit Frau und Kind glücklich. Eigentlich. Bis nichts mehr geht. Mutig und offen erzählt er von einer sehr dunklen Zeit.

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In diesem Beitrag geht es um schwere Depressionen und Suizidgedanken. Falls Sie sich gerade in einer schwierigen Phase befinden bzw. Sie meinen, dass diese Themen Ihnen gerade nicht guttun, überspringen Sie diesen Artikel. In psychischen Krisen ist die Telefon-Seelsorge unter der Notrufnummer 142 Tag und Nacht erreichbar.

DA „Für mich gab es immer nur eine Richtung – steil nach oben.“ Neben Ihrer Raketenkarriere war auch in Ihrem Privatleben eigentlich alles perfekt. Wann und wie war der „mental break-down“?
Dr. Thomas Reinbacher An den 16. September 2021 erinnere ich mich noch, als ob es gestern gewesen wäre. Aus Traum wurde Albtraum. Damals wurde bei mir in der Klinik eine schwere Depression (F33.2) diagnostiziert, die mein Leben in die größte Krise bisher stürzte. Es folgten zwei Episoden mit mehr als 200 Tagen in der geschlossenen und offenen Psychiatrie sowie einer psychosomatischen Tagesklinik. Diese Krise dauerte zwei Jahre, in denen ich nicht in der Lage war zu arbeiten und die für meine liebe Frau und mich eine große Prüfung waren. Wir haben die Psychiatrie aufgesucht, weil ich so verwirrt war, dass ich nicht einmal einfache Texte lesen konnte und seit Wochen nicht mehr richtig schlief. Wir wussten aber nicht genau, was mit mir los war. Ich hätte alles viel früher bemerken können. Zwei Monate zuvor habe ich zum Einschlafen einen Gesundheitspodcast gehört, in dem ein Arzt die typischen Symptome einer Depression erklärte: gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Unruhe, Schlafstörungen etc. In den Symptomen glaubte ich mich wiederzuerkennen. Ich war ständig müde, konnte mich auch am Wochenende nicht richtig erholen. Meine Batterien waren leer. Am nächsten Morgen habe ich meiner Frau davon erzählt. Da haben wir gedacht „Okay, da kommt jetzt viel zusammen (neuer Job, Nachwuchs etc.) und die Aufregung wird sich bald legen.“ Das war unser naives Resümee. Depression, so ein „Psycho-Ding“ habe ich bestimmt nicht …

DA … doch zwei Monate später kam die Diagnose: schwere Depression. Warum ist es Ihrer Meinung nach so schwer, aus dem „Hamsterrad“ auszubrechen bzw. die eigenen Bedürfnisse zu erkennen?
Reinbacher Es stimmt, am Anfang habe ich die neue Arbeitssituation dafür verantwortlich gemacht, dass es mir „nicht so gut ging“. Schon immer, wenn ich vor einer neuen Herausforderung stand, war ich nervös. Dass es sich diesmal nicht um Nervosität, sondern um eine handfeste Depression handelte, habe ich erst viel zu spät bemerkt. In den vielen Tagen meiner Behandlung habe ich Konzepte kennengelernt, die erklären, wie eine Depression entstehen kann. Eines habe ich als besonders passend für meine Situation empfunden. Meine Therapeutin hat es mir so erklärt: Stell dir deine Seele (also alles, was in deinem Kopf herumschwirrt) wie eine Kaffeetasse vor, die ein Ablassventil hat. Die Größe der Kaffeetasse, also ihr Fassungsvermögen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Von oben gießt man, oder besser gesagt das Leben, Stress in die Tasse. Stress kann viele Ursachen haben, Stress am Arbeitsplatz, Trennungen, Schicksalsschläge, finanzielle Schwierigkeiten und so weiter. Solange man den Ablasshahn oft und lange genug aufdreht, fließt mehr Stress ab, als neuer hinzukommt und man bleibt im Gleichgewicht. Das Ablassen sind Aktivitäten, die einem guttun. Bei mir ist das z. B. Wandern, Spazierengehen oder Mountainbiken. Wenn man seine eigenen Bedürfnisse zu lange vernachlässigt, läuft die Kaffeetasse unweigerlich über. Das ist für kurze Zeit nicht schlimm, aber wenn das über längere Zeit so geht, dann kann das im Extremfall wie bei mir zu einer psychischen Erkrankung führen.
Bei mir kam 2021 einfach zu viel auf einmal zusammen. Oft war es in meinem Leben so, dass eine große Aufgabe mit noch mehr Einsatz zu bewältigen war. Das ist ein Muster, das ich gelernt habe und das mich, gepaart mit Perfektionismus und Ehrgeiz, in meinem Leben sehr weit gebracht hat. Jetzt im Nachhinein sage ich: Ganz klar, das war viel zu viel, das schafft doch keiner. Gerade mit der Geburt unseres Sohnes hätte ich einen Gang zurückschalten sollen, stattdessen habe ich „Vollgas gegeben“.

DA Nach einem ersten Therapieversuch meinten Sie, Ihre Krankheit so weit im Griff zu haben, und haben wieder gearbeitet. Ein Fehler? Wie ging es weiter?
Reinbacher Das war die Gretchenfrage schlechthin: Wie lange soll ich nach der Entlassung warten, bis ich wieder anfangen kann zu arbeiten? Irgendwann hat mir mein gesamtes Umfeld unisono den gleichen Rat gegeben: Geh wieder arbeiten, damit wieder Normalität in dein Leben einkehrt. Ich wollte es auch. Endlich das unrühmliche Kapitel hinter mir lassen und in mein altes Leben zurück. Mein Arbeitgeber war während des ganzen Prozesses wunderbar und absolut vorbildlich. Es sollte also wieder losgehen. Endlich war ein Silberstreif am Ende des dunklen Tunnels zu sehen.
Vom ersten Arbeitstag an begleiteten mich leider viele Versagensängste. Ich dachte, vielleicht ist das am Anfang normal – ich war ja so lange krankgeschrieben. Also durchbeißen! Aber die Ängste blieben. Meine Arbeitstage fühlten sich im Gegensatz zu früher extrem anstrengend an. Mein Kopf war so sehr mit Ängsten beschäftigt, dass für die eigentliche Arbeit keine geistige Kapazität mehr übrig blieb. Mein Bauchgefühl sagte die ganze Zeit „Nein“. Ich hätte darauf hören sollen. Nur acht Wochen nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz kam der Bumerang der Depression. Und was für einer! Diesmal zogen ganz dunkle Wolken auf, viel schlimmer als in der ersten Episode. Meine Gedanken waren wieder pechschwarz. In den dunkelsten Tagen konnte ich nicht schlafen, nicht klar denken, keine Freude empfinden, nicht aufstehen und nichts essen. Zu der Depression kam diesmal auch noch eine Bewegungsunruhe (Akathisie). Ich lief Tag und Nacht im Kreis, konnte weder ruhig sitzen noch stehen oder schlafen. Es waren höllische Schmerzen, seelisch und körperlich.
In der kranken Gedankenwelt der Depression erschien meinem damaligen Ich das selbstgewählte Ende meines Lebens sinnvoller als das Weiterleben. Aus diesen Gedanken konnte ich nicht mehr ausbrechen oder mich davon distanzieren. Ich stand kurz vor einem Selbstmordversuch – obwohl mein Leben absolut perfekt war und es mir an nichts fehlte! Die Depression hat meine Gedanken ferngesteuert. Ich war ihr Passagier und wir fuhren mit Anlauf gegen die Wand. Meine Frau hat dann das Leben unserer Familie gerettet und mich überredet, mich selbst in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Um mich zu schützen. Ich konnte nicht mehr auf mich selbst aufpassen. Das war der schlimmste Tag meines Lebens, aber ohne professionelle Hilfe hätte ich es nicht geschafft. So kurz nach der ersten Episode wieder in der Psychiatrie! Und diesmal war es noch schlimmer als beim ersten Mal. Das muss man erst einmal verarbeiten.
Es folgte ein halbes Jahr stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie und in einer psychosomatischen Tagesklinik, bis ich mich wieder stabilisiert hatte. Es war ein langer und steiniger Weg mit vielen kleinen Fort- und Rückschritten. Es dauerte Wochen, bis ich begriff, dass nur eine radikale Akzeptanz meiner Krankheit den ersten Schritt nach vorne ermöglicht. Das heißt, es anzunehmen, sich zu öffnen und nicht mehr dagegen anzukämpfen. Das heißt aber definitiv nicht zu resignieren! Akzeptanz ist der Schritt zur Veränderung. Akzeptanz bedeutet niemals Stillstand. Nichts passierte von heute auf morgen, es war eher wie eine lange, beschwerliche Bergtour. Meine Offenheit, so viele Therapien in der Klinik wie möglich auszuprobieren, und meine fantastische Frau, die zu 100 Prozent hinter mir stand und mich vom Alltag völlig freigestellt hat, ebneten mir nach vielen Monaten der Verzweiflung den Weg aus der Depression. In der Psychotherapie folgte die schmerzliche Erkenntnis, dass die alten Werte, die mich so weit gebracht hatten, überholt waren und neue Werte für mein Leben 2.0 hermussten. Es war die größte Wandlung meines Lebens. Zwei Jahre nach der Diagnose ist die Sonne in meinem Leben wieder aufgegangen und ich habe die Depression hinter mir gelassen. Heute bin ich dankbar und freue mich des Lebens und blicke absolut positiv in die Zukunft. Dass ich aus diesem dunklen Loch herausgekommen bin, war mit Abstand die größte Leistung meines Lebens. Die anspruchsvollen Jobs bei NASA, Amazon und Google waren dagegen Kindergeburtstage. Meine „alternative Realität“, in der ich während meiner depressiven Episoden gelebt habe, kann ich heute nicht mehr verstehen.

Forschung: „Male Depression“

Das Konzept der „Male Depression“, also der männlichen Depression, ist noch relativ neu. Dabei wird davon ausgegangen, dass bei Männern bestimmte Anzeichen häufig die üblichen bekannten Symptome einer Depression überlagern. Eine gedrückte Stimmungslage, der Verlust von Interessen und Freude, verminderter Antrieb etc. kann bei beiden Geschlechtern auf eine Depression hinweisen. Johannes Wancata von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der MedUni Wien schärft anlässlich des Weltmännertags das Bewusstsein dafür, dass bei Männern zusätzlich häufiger Reizbarkeit, Aggressivität und Risiko- bzw. Suchtverhalten auftreten können.

DA Haben Sie sich für Ihre Depressionen je geschämt bzw. eine Stigmatisierung empfunden?
Reinbacher Ja, ich habe mich sehr geschämt. Während meiner ersten depressiven Episode habe ich versucht, alles unter den Teppich zu kehren. Nur meine engste Familie und ein paar Freunde wussten wirklich, was los war. In der Arbeit habe ich gesagt: „Herzrhythmusstörung“. Das hat mir eine Therapeutin in der Klinik vorgeschlagen. Eine gute Erklärung für meine lange Abwesenheit. Im Gegensatz zu einer Depression wird man damit nicht stigmatisiert. Ich wollte so schnell wie möglich zurück in mein normales Leben. Und in meinem sonst so perfekten Lebenslauf macht sich ein Aufenthalt in der Psychiatrie nicht so gut.

DA In der Psychiatrie haben Sie den Entschluss gefasst, dass Sie nach Ihrer Entlassung offen über Ihre psychische Erkrankung reden werden. Warum?
Reinbacher Als ich nach nur acht Monaten wieder in der Klinik zur Behandlung der zweiten Episode war, diesmal in der geschlossenen Psychiatrie, und keinen Ausweg mehr sah, habe ich mir geschworen: „Scheiß drauf, wenn du hier gesund herauskommst, dann sprichst du offen über deine Krankheit und versteckst dich nicht mehr.“ Arbeit, Status, was andere von mir denken, waren mir dabei völlig egal. Ich wollte nur eines: gesund werden und ein Leben 2.0 beginnen. In meiner langen Ausbildung habe ich nie etwas über die psychische Gesundheit gehört. Das muss sich ändern! Daher gehe ich jetzt auf eine Vortragsreise. Das ist mein kleiner Beitrag dazu, dass sich das ändert.

DA Sind Sie der Ansicht, dass Männer weniger über ihre mentale Gesundheit sprechen, wenn ja warum?
Reinbacher Ich kenne die Statistiken nicht genau, aber aus meiner subjektiven Erfahrung: ja, auf jeden Fall. In meiner Akutphase, also in der Psychiatrie, habe ich viel mehr Männer auf der Station angetroffen als in der psychosozialen Tagesklinik. In der Tagesklinik, wo meistens die leichteren Verläufe behandelt werden, waren viel mehr Frauen als Männer in Behandlung. Vielleicht suchen die Frauen frühzeitig professionelle Hilfe und die Männer – mich eingeschlossen – erst dann, wenn es schon fast zu spät ist.

DA Gibt es abschließend noch etwas, das Sie unseren Leser:innen mitgeben wollen?
Reinbacher Ich möchte den Menschen Mut machen, dass es keine Schande ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Jeder muss es sich wert sein, sich helfen zu lassen. Das gilt für ein gebrochenes Bein genauso wie für eine gebrochene Seele. Depression ist eine Krankheit, die in den richtigen Händen gut behandelbar ist. Einmal psychisch krank bedeutet also nicht, dass man sein Leben lang psychisch krank ist. Ich habe wahnsinnigen Respekt vor Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden und die jeden Tag darum kämpfen, dass ihr Leiden ein bisschen weniger wird. Und vor ihren Angehörigen, die die vergessenen Held:innen unserer Gesellschaft sind!
Meine Geschichte habe ich in dem Buch „Nach Grau kommt Himmelblau“ beschrieben. Wichtig war mir, dass auch meine Frau ihre Sicht darin erzählt. Mit dem Buch wollte ich alles aufschreiben für meinen dreijährigen Sohn Nik. Damit er es einmal besser macht als der Papa. Die große Resonanz auf dieses sehr persönliche Buch hat mich aber überrascht.

DA Danke für das Gespräch.

Buchtipp

Buch_cover-reinbacher - © beigestellt
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Nach Grau kommt Himmelblau – Von einer Raketenkarriere in die Depression und zurück ins Leben 2.0
2023, Thomas Reinbacher, 20,– Euro
ISBN: 978-3-9825-4788-6
Erhältlich unter
www.himmelblau.jetzt